Kurze Geschichte des Strickens

Von den Anfängen bis zur Renaissance

 von Andreas Sturm

Die Grundlagen des Strickens

Textile Fläche "Maschenware"
Maschenwaren entstehen durch ineinandergreifende Fadenschleifen (Maschen), die aus einem oder mehreren Fäden gebildet werden können (DIN 62050). Man unterscheidet dabei zwischen:

Einfadenware

Kettfadenware

Strick- und Kulierware

Kettenwirkware

Eindadenware

Kettfadenware

  • Für die Maschenbildung ist mindestens ein Faden erforderlich.
  • Der Fadenverlauf erfolgt in Querrichtung.
  • Eine Masche steht immer nur mit einer Masche über und unter ihr in Verbindung und bildet ein Maschenstäbchen.
  • Die Ware läßt sich aufziehen.
  • Einfadenware läßt sich durch Wirken oder Stricken herstellen.
  • Für die Maschenbildung ist ein Kettfadensystem erforderlich.
  • Jeder maschenbildende Faden verläuft in Längsrichtung im Zickzack durch die Ware.

  • Die Ware läßt sich nicht aufziehen.

  • Kettfadenware wird gewirkt.

Gestrickt wird mit einzeln bewegten Nadeln. Kulierwirkware entsteht mit gemeinsam bewegten Nadeln. Allerdings können die Nadeln auch feststehen während der Stoff bewegt wird.

Die Entwicklung des Handstrickens

Vorstufen: Netzarbeiten mit einer Nadel

Das Filet
Die Anfänge des Strickens lassen sich nicht mit Sicherheit zurückverfolgen. Semitische und anderer kleinasiatische Stämme kannten bereits um 1900 v.Chr. eine Art Stricksocke. Wahrscheinlich ist die Technik des Strickens eine Weiterentwicklung aus dem Verknoten bzw. Verschlingen von endlichen Fäden zu einer Netzarbeit (Filet). Dabei muß der Fadenanfang versteift, also z. B. in eine Nadel eingefädelt sein, da die gesamte Fadenlänge durch die Maschen gezogen werden muß (Abb. 1). Um nicht laufend einen neuen Faden anknüpfen zu müssen, kann man den Faden um eine längliche Spule wickeln. Es entsteht ein netzartiger Grund, in den man Muster einarbeiten kann. Ein Kupferstich (Abb. 2) zeigt die Jungfrau Maria bei der Arbeit an einem Hemd für das Jesuskind. Heute wird das Filet zur Herstellung bestimmter Spitzen verwendet.1

Filet

Abb. 1: Maschenbildung beim Filet.

Maria beim Filet

Abb. 2: Maria bei der Filetarbeit. Von Veit Stoß, um 1480.

Die Nadelbindung
Dem Filet in der Arbeitsweise ähnlich ist die Nadelbindung (Naalbinding). Diese Technik wird heute meist mit den Wikingern verbunden, ist jedoch weitaus älteren Ursprungs und läßt sich bereits in der Jungsteinzeit nachweisen. Wie das Filet wird die textile Fläche mit einer einzelnen Nadel gebildet, mit deren Hilfe der gesamte Faden durch eine oder mehrere bereits geformte Maschen gezogen wird (Abb. 3). Diese Technik läßt sich genauso wie das Filet eher mit dem Nähen als dem Stricken oder Häkeln vergleichen. Denn im Gegensatz zu Filet und Nadelbindung wird beim Stricken und Häkeln eine neue Masche dadurch gebildet, dass nur ein kleines Stück Faden mit einer (Haken-) Nadel durch eine einzelne, schon bestehende Masche gezogen und zu einer neuen Fadenschlaufe geformt wird.

Naalbinding-Produkte und Gestricke zeichnen sich durch einen elastischen und engen Sitz aus, selbst an schwierigen Körperpartien wie Kopf, Händen und Füßen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Nadelbindung und Stricken gerade in Gebieten mit kaltem Klima eine besondere Blüte erlebten. Die Nadelbindung war allerdings im europäischen Mittelalter eher im skandinavischen und slawisch/baltischen Raum verbreitet. In Zentraleuropa finden sich dagegen nur wenige Beispiele für diese Variante - meist aus dem hochadligen oder klerikalen Umfeld. Sonst zog man in unseren gemäßigten Breiten das Stricken der Nadelbindung vor. Wie diese geographische Teilung zustande kam, drückt ein finnisches Sprichwort sehr treffend aus: "Der, welcher gestrickte Fäustlinge trägt, hat eine ungeschickte Frau."

Nadelbindung

Abb. 3: Maschenbildung bei der Nadelbindung.

Das Sprichwort ist ein Hinweis auf wesentlichen ökonomischen Unterschied zwischen der Nadelbindung und Strickware, der dort an Bedeutung gewinnt, wo die mittelalterliche Gesellschaft den Wandel zur Geldwirtschaft vollzieht. Nadelbindung erfordert einen weitaus größeren Zeitaufwand und größeres handwerkliches Geschick als Stricken und eignet sich deshalb eher für die Deckung des Eigenbedarfs in kleinen Dorfgemeinschaften. In den aufblühenden Städten Zentral- und Südeuropas dagegen konnte die Nadelbindung als Handelsware mit dem effizienteren Stricken nicht konkurrieren.

Hauptsächlich wurde die Nadelbindung für Herstellung von Fäustlingen verwendet. Im englischen York wurde bei Ausgrabungen auch eine mit dieser Technik hergestellte Socke aus dem 10 Jh. n. Chr. entdeckt, die wohl bis zum Fußknöchel reichte. Das Museumsdorf Düppel hat in jüngster Zeit Versuche angestellt, mit Hilfe der Nadelbindung Gugeln für den bäuerlichen Gebrauch herzustellen.

Stricken: Zwei Nadeln und mehr
Das echte Stricken schließlich entwickelt sich wahrscheinlich nicht sehr viel später oder parallel zur Nadelbindung. Der offensichtlichste Unterschied zu den Vorstufen des Strickens ist die Benutzung von zwei anstelle einer Nadel und die damit einher gehende veränderte Art der Maschenbildung. Bereits die Antike kannte Strickwaren, auch wenn sie - wohl wegen des warmen Klimas - selten genutzt wurden. So kannten die Griechen einen Stricksocken. Ein Stricktrikot war traditioneller Bestandteil der griechischen Theaterkostüme. Hier hielt die flexible Maschenware Körperpolster am Platz.

Mit dem Niedergang der antiken Kulturen verliert auch das Stricken nach dem 5. Jahrhundert an Bedeutung in Europa, doch wurde offenbar nie ganz vergessen. Andere Theorien besagen, das Stricken sei durch die in Spanien eindringenden Araber re-importiert worden. Die interessantesten Beispiele für die hochentwickelte Strickkunst der spanischen Mauren sind gemusterte Kissenbezüge aus dem späten 13. Jahrhundert, die in den Gräbern der kastilischen Königsfamilie gefunden wurden.

Maria beim Rundstricken

Abb. 4: Stricken mit vier Nadeln.

Stricken in der liturgischen Mode
Im frühen Mittelalter waren liturgische Handschuhe offenbar die häufigsten Strickwaren. Bischöfe gebrauchten sie vom sechsten oder siebten Jahrhundert an, während einfache Priester mit Stücken aus Stoff oder Leder vorlieb nehmen mussten. Ein Kircheninventar aus dem Jahre 800 zählt 16 Paar Handschuhe auf. Als Material dienten zumeist Wolle und Seide, seltener auch Leinen. Auch für die Zeit zwischen 1200 und 1500 zeigen Siegelbilder Handschuhe als bischöfliches Attribut. Ihr Gebrauch wird auch von zwei päpstlichen Bullen aus dem elften und zwölften Jahrhundert bestätigt. Etliche Kircheninventare aus Frankreich, Deutschland und Italien listen reich verzierte Handschuhe auf. Die Zeiten überdauert haben aber nur wenige. Nicht alle der verbliebenen Exemplare sind wirkliche Strickwaren, einige wurden auch durch Nadelbindung hergestellt.

Stricken als häusliche Frauenarbeit
Neben diesem liturgischen Verwendungszweck entwickelte sich das Stricken im Hochmittelalter zu einem typischen häuslichen Tagewerk der Frauen. In diese Zeit muß auch die Entwicklung des Rundstrickens mit vier und fünf Nadeln fallen. Die ältesten erhaltenen liturgischen Handschuhe zeigen, dass diese Technik bereits bekannt war. Die erste zuverlässige Abbildung stammt aber erst aus dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts. Auf dem Gemälde Unsere Herrin von Buxtehude2 strickt Maria mit vier Nadeln den Rock des Jesuskindes. Babykleidung scheint zu dieser Zeit ein beliebtes Einsatzgebiet für Maschenwaren gewesen zu sein.

Vereinzelt erscheinen vom siebten Jahrhundert an gestrickte Strümpfe: So im 13. Jahrhundert in Italien und gegen Ende des 14. Jahrhunderts auch in England. Henry IV. von  England (1367 - 1413) soll gestrickte Wollsocken getragen haben. Erhalten geblieben sind die gestrickten Beinlinge3 des Bischofs Konrad Sternberg, der 1192 in Worms beerdigt wurde. Im 15. Jahrhundert kommen gestrickte Baretts und Mützen (Schlappen oder Schläppchen) in Mode. Zwischen 1500 und 1520 trennt man die Hose mit Schamkapsel in eine oberschenkellange Hose und separate Strümpfe. Allerdings werden diese Strümpfe zunächst noch flachgestrickt und auf der Rückseite zusammengenäht.

Strickbarette

Abb. 5: Barett, darunter eine Schlappe.

Die Entstehung des Handwerks
Gestricke haben im Mittelalter gegenüber den Geweben sicherlich zunächst nur eine untergeordnete Stellung eingenommen. Dennoch nehmen die Funde gestrickter Kleidung aus dem 14. und 15. Jahrhundert deutlich zu. Die frühesten Erwähnungen des gewerblichen Strickens finden sich im Jahr 1268 in Paris. Später wird die Gilde der Pariser Stricker 1366, 1380 und 1467 bestätigt. Weitere Gilden der Stricker werden in Doornik, Niederlande 1429 und 1496 in Barcelona beurkundet. Es gibt auch Hinweise, dass die Städte im Norden Frankreichs von fahrenden Strickern besucht werden. In Deutschland werden im Jahre 1600 erstmals die Nürnberger Hosen- und Strumpfstricker urkundlich erwähnt. Stricken wird sowohl von Männern wie Frauen besorgt.

Das Handstricken hat sich im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters also zu einem anerkannten Handwerk entwickelt. Zunächst nicht sehr hoch in der Hierarchie der Handwerke angesiedelt, schafft es bis zum Jahre 1514 den Aufstieg zu einer der sechs wichtigsten Handwerkergilden in Paris. Sehr wahrscheinlich war diese rasche Aufwertung der Stricker eng mit der Forderung nach möglichst körperbetonten Beinkleidern in der Männermode verknüpft.

Der englische Pfarrer William Lee konstruiert 1589 die erste Kulierwirkmaschine, mit der Strümpfe maschinell flachgestrickt werden können. Königin Elizabeth I. fürchtet aber um die Arbeitsplätze der Handstricker und verbietet die Maschine. Lee geht daraufhin nach Rouen in Frankreich, wo er seine Erfindung erfolgreich vermarkten kann. Lee's Strumpfwirkmaschine ist ein Vorbote der Mechanisierung im Textilgewerbe, welche im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts die industrielle Revolution einläuten wird.

 Anmerkungen

1 Dass mit dem Filet eine Form von Spitzen hergestellt werden kann, sollte nicht zu der Annahme führen, Spitzen seien ein mittelalterliches Bekleidungsaccessoire! Die klassische Nadelspitze erscheint erstmals um 1530 in Italien. Das Wort Spitze findet sich zwar bereits im Althochdeutschen (spizza, spizzi, mhd. Spitze), bedeutet dort aber noch Garngeflecht oder gezackte Borte. Erst im 17. Jh. nimmt es die heutige Bedeutung an, davor waren Zinnichen und Zinnigen gebräuchlich. zurück

2 Das Gemälde wird Meister Bertram aus München (um 1340 - 1414/15) zugeschrieben und soll um 1370 entstanden sein. Es hängt heute in der Kunsthalle Hamburg. zurück

3 In der englischen Übersetzung des ursprünglich polnischen Aufsatzes "The Diffusion of Knitting in Medieval Europe" von Irena Turnau wird der Begriff leggins benutzt, und nicht das sonst übliche hose. zurück

 Ausgewählte Literatur

Adebar-Dörel, Lisa und Ursula Völker. Von der Faser zum Stoff: Textile Werkstoff- und Warenkunde. 31., überarb. Aufl. Hamburg: Büchner, 1994. ISBN 3-582-05112-9.

Eberle, Hannelore [u. a.]. Fachwissen Bekleidung. 4., überarb. Aufl. Haan-Gruiten: Europa Lehrmittel, 1995. ISBN 3-8085-6204-8.

Hutchinson, Elaine. "Nalebinding". Anglo-Saxon and Viking Crafts. Website. Regia Anglorum Publications. 1999. http://www.regia.org/naalbind.htm

Kühnel, Harry, Hg. Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung: Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter. Kröners Taschenausgabe 453. Stuttgart: Kröner 1992. ISBN 3-520-45301-0.

Loschek, Ingrid. Reclams Mode- und Kostümlexikon. 4. Aufl. Stuttgart: Reclam, 1999. ISBN 3-15-010448-3.

Thiel, Erika, Hg. Geschichte des Kostüms: Die europäische Mode von den Anfängen bis Gegenwart. 6., verb. und erw. Aufl. Berlin: Henschel, 1997. ISBN 3-89487-260-8.

Turnau, Irena. "The Diffusion of Knitting in Medieval Europe". N. B. Harte and K. G. Ponting. Cloth and Clothing in Medieval Europe. Pashold studies in textile history 2. London: Heinemann, 1983.

 © Andreas Sturm 2001

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